Mit Gefühl auf die Menschen eingehen
Text: Daniel Göring, Fotos: Louis Pasquier
Frau Balsiger (Name geändert) sitzt auf der dunklen Bank vor dem Stationszimmer. Sie schaut erwartungsvoll zu Evelien Zwiep hin, als sie diese den schmalen Flur entlangkommen sieht. Evelien Zwiep setzt sich. «Was passiert noch heute Nachmittag?» will Frau Balsiger wissen. «Es gibt nächstens Zvieri, dann sind wir noch ein wenig beisammen und bald ist Abend», antwortet Evelien Zwiep.
Frau Balsiger ringt um Worte. «Sind Sie traurig?» fragt Evelien Zwiep vorsichtig. Frau Balsiger nickt. «Warum denn?» hakt Evelien nach. «Die blöde Warterei», entgegnet Frau Balsiger. «Das ist nicht einfach, ich weiss», entgegnet Evelien Zwiep, «aber es kommt schon gut.» Sie fasst Frau Balsiger aufmunternd am Unterarm. Die betagte Frau nickt, steht ohne weitere Worte auf und geht hinaus auf die Terrasse in die Nachmittagssonne.
Evelien Zwiep ist es ein Bedürfnis, auf die Stimmungen der Patientinnen und Patienten einzugehen.
Menschen ein Zuhause schaffen
Frau Balsiger leidet an Demenz. Sie ist eine von 16 Personen, die auf der Demenzwohngruppe im Seniorenpark Frutigen leben. Evelien Zwiep ist Fachfrau Gesundheit und betreut heute mit zwei Kolleginnen die Bewohnerinnen und Bewohner der Station Maiensäss, wie die Abteilung heisst. Sie schaut Frau Balsiger auf ihrem Weg auf die Terrasse nach, dann sagt sie: «Wir folgen wo möglich den Stimmungen unserer Bewohnerinnen und Bewohner. Wenn sie traurig sind, fühlen wir mit ihnen mit und nehmen sie auch mal in den Arm, um sie zu trösten.»
Auf die Bedürfnisse der Person und ihre momentane Gemütslage einzugehen, ist laut Evelien Zwiep zentral in der Betreuung von Menschen mit Demenz. «Es ist unsere Aufgabe, ihnen ein Zuhause zu schaffen und dafür zu sorgen, dass sie sich bei uns wohlfühlen.» Dies erfordere zum einen viel Aufmerksamkeit, zum anderen aber noch mehr Gefühl, wie die Fachfrau Gesundheit unterstreicht: «Ich arbeite mehr mit meinen Empfindungen als mit einer Zeittabelle.»
Will heissen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner auch mal länger im Bett bleiben dürfen, wenn ihnen danach ist und nicht um Punkt 7 Uhr aufstehen und zur Morgentoilette müssen. Natürlich würden die Betreuerinnen versuchen, gewisse Abläufe einzuhalten, allerdings ohne Druck auszuüben. «Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen einen angenehmen Tag haben», erklärt Evelien die Motivation für die Freiräume, «das ist für sie wichtiger als fixe Vorgänge und feste Zeiten».
Auch der Humor darf nicht zu kurz kommen im Alltag auf der Wohngruppe.
Humor darf nicht fehlen
Just diese Flexibilität ist es, die Evelien Zwiep an ihrem Job besonders schätzt. Im Gegensatz zur konventionellen Pflege kann sie sich persönlich auf die Menschen einlassen und muss nicht zu einem bestimmten Termin bei einer bestimmten Person den Blutdruck messen oder ihr Medikamente verabreichen. «Ich empfinde es als bereichernd, wenn ich den Leuten das geben kann, was sie gerade brauchen.» Das könne ein Gespräch sein, eine aufmunternde Geste oder einfach die Präsenz als Mensch im Augenblick.
«Personen mit einer Demenz können sich oft nicht mehr mit Worten ausdrücken. Aber sie spüren, wenn ich sie ernst nehme in ihrer Art und mit ihren Gefühlen.» Nicht zu kurz kommen dürfe auch der Humor, fügt Evelien hinzu: «Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner lachen, zeigt mir das, dass sie einen guten Tag haben.» Wer ihr ansteckendes Lachen sieht, glaubt der Fachfrau Gesundheit aufs Wort.
«Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner lachen, zeigt mir das, dass sie einen guten Tag haben.»
Evelien Zwiep hat durch die Nähe zu Menschen mit Demenz einen ganz anderen Blick auf sie: «Diese Leute haben oft viel gearbeitet in ihrem Leben und sich für unsere Gesellschaft eingesetzt. Durch die Demenz wirken sie von aussen wie leer. Ich bin froh, wenn ich ihnen in dieser besonderen Lebensphase Gutes tun kann.» Dazu gehört auch, noch vorhandene Ressourcen zu aktivieren, wie die Pflegefachfrau erläutert. «Es ist auf den ersten Blick nicht sichtbar, aber diese Menschen können noch viel. Wir müssen bloss herausfinden, was es ist.» Mit Einfühlungsvermögen und Geschick gelingt es den Betreuenden laut Evelien Zwiep oft, den im Inneren der Bewohnerinnen und Bewohner schlummernden Schatz an Fähigkeiten wieder ans Tageslicht zu hieven.
Evelien Zwiep bereitet Medikamente für ihre Patientinnen und Patienten vor.
Bewegung als Ausgleich
Der Umgang mit Menschen, die an Demenz leiden, mag für sie erfüllend sein, bisweilen ist er geistig aber auch anstrengend, wie Evelien Zwiep einräumt. Deswegen schwingt sich die Fachfrau Gesundheit am Feierabend zum Ausgleich aufs Velo oder geht ins Schwimmbad Längen ziehen. Bewegung ist ihre Methode, um die Gefühle wieder loszuwerden, die nicht ihre eigenen sind.
Gleichwohl möchte Evelien Zwiep die Emotionen in ihrem Job nicht missen. Sie bescheren ihr immer wieder wundervolle Momente. Wie jenen, als sie eines Morgens zur Arbeit kam und auf dem Flur der Wohngruppe Maiensäss ein Bewohner stand, die Arme ausgebreitet, und ihr zur Begrüssung sagte: «Schön, bist du wieder da.»
Pflege und Begleitung von Menschen mit Demenz
Für die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz gibt es in der Schweiz eine Vielzahl von Weiterbildungen. Allein im Kanton Bern stehen diverse Nachdiplomstudiengänge (CAS) auf Fachhochschulstufe und Kurse zur Auswahl. Sie beinhalten die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Demenz sowie die Kommunikation mit ihnen. Die Ausbildungen richten sich an Fachleute, die in Pflege und Therapie oder aus medizinischen, psychologischen oder pädagogischen Gründen mit Personen zu tun haben, die an Demenz leiden.
Zur Person
Evelien Zwiep ist 27-jährig und stammt aus den Niederlanden. Die Fachfrau Gesundheit hat in ihrer Heimat eine ergänzende 18-monatige Ausbildung als Spezialistin in Psychogeriatrie absolviert. Evelien Zwiep wohnt in Kandersteg, wo sie in einem Pflegeheim arbeitete, bevor sie vor einem Jahr in den Seniorenpark Frutigen wechselte. In ihrer Freizeit treibt sie regelmässig Sport, und sie liebt es, allerlei Dinge zu häkeln, zum Teil auf Wunsch für andere Leute. Evelien Zwiep verbringt auch gerne Zeit mit ihrer Familie, abwechselnd in den Niederlanden oder, wenn diese in die Ferien kommt, in der Schweiz.
Kommentare
Ich finde deine Art wie du mit den Bewohner/innen umgehst mit der humorvollen Art einfach super. Mach weiter so!